Fakten über: Kyros-Zylinder
Der Kyros-Zylinder, auch Kyros-Erlass oder Kyros-Edikt, enthält die Proklamation des achämenidischen Königs Kyros des Großen, die er nach 538 v. Chr. auf einem Tonzylinder abfassen ließ, um aus seiner Sicht die Gründe des Sturzes des letzten neubabylonischen Königs Nabonid darzulegen. Der aus dem Kyros-Edikt in jüdischer Überlieferung abgeleitete „Auftrag zum Tempelbau in Jerusalem“ erschien in außerbiblischen Erwähnungen erstmals bei Xenophon in seinem politisch motivierten Werk Die Erziehung des Kyros, das etwa 160 bis 180 Jahre nach dem Kyros-Erlass entstand und Ähnlichkeiten zu den Formulierungen im Alten Testament aufweist.
Forschungsgeschichte
Der Kyros-Zylinder wurde 1879 in Babylon entdeckt. Man vermutet, dass er beim Fund vollständig erhalten war, aber bereits vor dem Abtransport von Babylon in zwei Teile zerbrach. Das größere Teilstück gelangte ins British Museum (Inventarnr. BM 90920) und das kleinere wurde ungefähr 25 Jahre später auf dem Kunstmarkt versteigert und in die Yale Babylonian Collection (Inventarnr. NBC 2504) integriert. Die beiden Teile wurden in den 1970er Jahren zusammengefügt und sind seither im British Museum zu sehen. 2009/2010 entdeckten Wilfred George Lambert und Irving Finkel eine Kopie des Textes auf zwei Fragmenten einer Tontafel aus der Sammlung des British Museum (Inventarnr. BM 47134, BM 47176).
Der Zylinder enthält einen keilschriftlichen Text in akkadischer Sprache. Das Teilstück des British Museum wurde 1880 von Henry Rawlinson veröffentlicht, das Stück der Yale Babylonian Collection 1920 von James B. Nies und Clarence E. Keiser.
Foto: Photograph by Mike Peel (www.mikepeel.net). / CC BY-SA 4.0 / de.wikipedia.orgBeschreibung
Der Kyros-Zylinder ist ungefähr 22,5 cm lang und hat einen Durchmesser von 10 cm. Der Kern ist aus Ton mit großen grauen Steinschlüssen. Er wurde zuerst als Kegel und danach mit zusätzlichem Ton als Zylinder geformt. Bevor die Schreiber die Keilschriftzeichen auftrugen, wurde nochmals eine feinere Schicht Ton aufgetragen. Zum Schluss wurde der Zylinder im Feuer gehärtet. Seine Datierung wird auf kurz nach 539 v. Chr. festgelegt.
Zylinder wie derjenige von Kyros II. waren in Babylon seit mehr als 2000 Jahren in Gebrauch und wurden in babylonische Bauwerke integriert. Man vermutet, dass der Kyros-Zylinder in der Mauer von Babylon, dem Imgur-Enlil, eingesetzt war. Der Inhalt des Zylinders wurde in babylonischen Archiven und Bibliotheken kopiert und auf andere Objekte wie königliche Statuen und Tafeln übertragen, um ein größeres Publikum zu erreichen. Diese Vermutung wird mit zwei zusätzlichen Tonfragmenten mit dem Inhalt des Kyros Zylinders gestützt.
Inhalt
- Zusammenfassung
Nabonidus, der König von Babylon, ist ein lästernder Tyrann und hat Marduk und die Götter vor den Kopf geschlagen, die Schreine vernachlässigt und das Volk unterjocht. Der barmherzige Marduk wählt Kyros II. als Retter vor der Tyrannei von Nabonidus. Ohne Kampf fällt die heilige Stadt Babylon mit der Unterstützung von Marduk in die Hände von Kyros II. Nabonidus wird gefangen genommen. Kyros II. stellt sich selbst als König mit königlichen Vorfahren vor. Er wird König von Babylon und empfängt die Tribute der Welt in Babylon. Er setzt die Götter von verschiedenen östlichen Regionen in ihren Tempeln wieder ein, die babylonische Könige weggebracht hatten. Das gleiche macht er mit den babylonischen Göttern, die von Nabonidus in die Hauptstadt gebracht wurden. Kyros II. erhöht die Opfergaben für Marduk und stellt die Mauer von Babylon wieder her.
Historischer Bezug
Der Kyros-Zylinder gehört zu den Verteidigungsreden, wie sie im Vorderen Orient verbreitet waren. Die Kernaussage der Reden war jeweils, dass der vorherige König nie eine göttliche Unterstützung gehabt oder sie verloren hätte. Diese Argumentation ist bei Nabonidus belegt, als er Lābāši-Marduk bezichtigte, kein angemessenes Verhalten zu zeigen und dieser ohne göttliches Einverständnis den Thron bestiegen hätte. Ebenso argumentierte Sargon II. gegen Salmānu-ašarēd V. der den Herrscher des Universums (Marduk) nicht gefürchtet und sein Volk wie Leibeigene behandelt hätte.
Im Vorderen Orient waren heilige Städte wie Aššur, Nippur oder Babylon privilegiert. Sie mussten keine Steuern zahlen und dem König keine Dienstleistungen erbringen. Durch die Bevorzugung von Sin durch Nabonidus verloren verschiedene Städte und Tempel ihre Privilegien. Nabonidus war in der Folge in einer jahrelangen Pattsituation mit der Priesterschaft von Marduk gefangen. Die babylonische Priesterschaft löste schlussendlich die Situation auf, indem sie die Tore Babylons für Kyros II. öffnete und ihn als Retter vom Tyrannen Nabonidus darstellte. Die Inschrift auf dem Kyros-Zylinder ist eine „brilliante“ Schöpfung der ausgereiften Schreiber von Babylonien im Namen von Kyros II.
Auf Zeile 43 des Kyros Zylinders wird eine Inschrift von Assurbanipal erwähnt, die von Kyros II. während der Restauration der Mauer von Babylon gefunden wurde. Es handelte sich wahrscheinlich um einen von vielen Zylindern, die von Assurbanipal, der die Mauer bereits restauriert hatte, in die Mauer eingelassen wurden. Die Zylinder der Könige Kyros II. und Assurbanipals ähneln sich äußerlich. Beide sind aus massivem Lehm mit Zeilen, die sich über die ganze Breite hinziehen. Zylinder aus der spätbabylonischen Zeit sind dagegen in zwei oder drei Spalten unterteilt. Mit der namentlichen Erwähnung von Assurbanipal im Kyros-Zylinder ist es deshalb naheliegend zu vermuten, dass sich Kyros II. als Nachfolger von assyrischen Königen verstand und nicht von babylonischen.
Die literarischen Modelle des Kyros Zylinders dagegen weisen auf den babylonischen Schöpfungs-Mythos Enūma eliš und die Esagil-Chroniken hin. Marduk als Retter von Babylon, der König als Versorger der Schreine, Marduk, der sein (Kyros II.) gutes Herz und seine guten Taten sah, all diese Aussagen stammen zum Teil wortgetreu abgebildet aus dem Schöpfungs-Mythos.
Die Esagil-Chroniken stammen von der Priesterschaft des Marduk. Ihre Spuren können bis ins späte 3. Jahrtausend v. Chr. bez. frühe 2. Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgt werden. Die Chronik soll die babylonischen Könige belehren, welchen Status Marduk hat und wie die Könige ihn angemessen verehren können. Marduk dürfe nicht ignoriert werden und man dürfe sich ihm nicht entgegenstellen. Unter den Sünden eines Königs laufen Vergehen gegen die heilige Stadt von Babylon, sein Volk und das Verweigern von Opfern an Marduk. In einem kurzen Überblick werden vergangene Könige nach ihren Taten gemessen. Gute Könige hätten ein gutes Leben gehabt und die Welt regiert, schlechte dagegen seien abgesetzt oder getötet worden. Von den vierzehn gelisteten Königen werden drei als gut bezeichnet (Gilgamesch von Uruk, Kubaba von Kiš und Šu-Sin von Ur), zwei hatten sich von gut nach schlecht verändert (Sargon von Akkad, Utuḫengal), einer war armselig (Ibbi-Sin) und der Rest war schlecht (Akka, Enmerkar, Puzur-ili, Ur-Zababa, Naram-Sin, die Gutiäer, Šulgi, Amar-Suena). Nach der Charakterisierung der Könige folgten die Bestrafungen in Form von Tod, Lepra, Schlaflosigkeit, Verlust der Herrschaft und fremden Invasionen. Die Chronik mündet in der Katastrophe von Ibbi-Sin, bei dem der zornige Marduk Babylonien verstieß und das Land vom Osten überrannt wurde. Die Götter verließen daraufhin ihre Schreine, gingen ins Exil und überliessen das Land seinen Zerstörern.
Der Kyros-Zylinder ist kein persischer Text, sondern ein babylonischer, geschrieben von und für Babylonier. Anschan war für sie mit zwei Verwüstungen von Babylon verbunden, einmal durch Šutruk-Naḫḫunte II. im 12. Jahrhundert v. Chr. und ein früheres Mal während der Herrschaft von Ibbi-Sin. Es lag an den Schreibern von Babylon, diese Erinnerungen zu tilgen und in ein Wunder, verursacht durch Marduk, zu verwandeln. Basierend auf den babylonischen Schriften von Enūma eliš und den Esagil-Chroniken hatten sich "vor den Augen der Babylonier ihre heiligen Schriften erfüllt."
Der „Kyros-Erlass“ im Alten Testament
Nach Darstellungen im Buch Esra soll Kyros bereits im 1. Regierungsjahr den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels angeordnet haben. Da keilschriftliche Texte fehlen und den Beschluss nicht bestätigen können, bezweifeln Historiker die Existenz einer derartigen Anweisung. Dies umso mehr, als für die Erledigung derartiger Verwaltungsfälle die königlichen Kommissare für Zentralangelegenheiten zuständig waren.
Über den Inhalt des „Kyros-Erlasses“ liegen im Buch Esra zwei Fassungen (hebräisch und aramäisch) vor, die stark voneinander abweichen. Die aramäische Fassung bezieht sich als Abschrift unter anderem auf einen authentischen Bericht, der im Archiv der persischen Stadtverwaltung in Ekbatana gefunden wurde; er entstammt einem Schriftwechsel, den der Statthalter Tattenai um 518 v. Chr. mit der Kanzlei des Dareios I. in Susa führte. Ein Bezug zum inzwischen verstorbenen Perserkönig und der vermeintlichen „Rückkehrerlaubnis“ aus 539 v. Chr. liegt jedoch nicht vor.
Die aramäische Originalfassung
Die hebräische Proklamation
Historische Bezüge
Die hebräische Proklamation verbindet die Anweisung zum Tempelbau mit der Erlaubnis zur Rückkehr der babylonischen Exilanten, die weder im Erlass auf dem Kyros-Zylinder noch in der aramäischen Originalfassung erwähnt wird. Während im aramäischen Edikt die Finanzierungsfrage des Tempelaufbaus eindeutig geregelt ist, beantwortet die hebräische Version diese wichtige Frage in einer merkwürdigen widersprüchlichen Art und Weise: Die Babylonier sollen die zurückkehrenden Exulanten mit dem Notwendigsten versehen und Spenden für den Jerusalemer Tempel stiften.
Weitere Einzelheiten des Wortschatzes sprechen gegen eine Abfassung zur Zeit des Perserkönigs: Die Titulatur „König von Persien“ ist erst seit Dareios I. bekannt; die Aussage „in seinem ganzen Reiche“ widerspricht der Tatsache, dass der Text an die Exulanten – die zudem aramäisch sprachen – und an die Babylonier gerichtet ist. Hinter der Redewendung „Jerusalem, das in Jehuda liegt“ steht die persische Bezeichnung von Provinzen, die aber erst ab 486 v. Chr. eingeführt wurden. Die Formeln „JHWHs Volk“ und „Übriggebliebene“ sind eindeutig „biblisch-theologisch“ geprägt und kommen im persischen Sprachgebrauch nicht vor. Der Chronist verlegte anachronistisch die Rückkehr der Exulanten auf 538 v. Chr. obwohl diese nachweislich später stattfand.
Auffällig ist der Umstand, dass bei Beginn des Wiederaufbaus keine Verwaltungsdokumente vorlagen, obwohl bei jedem Rechtsakt mehrere Duplikate einer schriftlich getroffenen Entscheidung an die beteiligten Personen ausgehändigt werden. 518 v. Chr. wird im Schriftwechsel der Statthalter Tattenai der babylonische „Kommissar“ Šamaš-aba-usur von den jüdischen Exulanten als Zeuge für einen angeblich in 538 v. Chr. von Kyros II. verfügten Erlass benannt, in welchem die Rückgabe der Tempelgeräte vom zerstörten Jerusalemer Heiligtum angeordnet sein soll. Tattenai reiste deshalb eigens nach Jerusalem, um „vor Ort“ besagtes Dokument zu sichten sowie die aufkommenden Spannungen zwischen den Samaritanern und den jüdischen Rückkehrern zu schlichten. Da niemand ein Duplikat der Verwaltungsurkunde vorlegen konnte, entsprach Tattenai nicht der mündlichen Bitte, den Tempelschatz auszuhändigen und trat unverrichteter Dinge wieder den Heimweg an. Der Chronist des Buches Esra lässt Dareios I. „in den Archiven forschen, bis er das Dokument fand“. Ein Beweis für die Existenz der Urkunde konnte bis heute nicht beigebracht werden.
Die erwähnte finanzielle Hilfe von Kyros, die der Perserkönig dem Wiederaufbau des Jerusalemer Heiligtums zukommen lassen haben soll sowie die Steuerbefreiung der Priester stehen in krassem Widerspruch zu den verfügten Einschränkungen gegenüber den Tempeln anderer Religionen in benachbarten Ländern.
In der aramäischen Originalfassung, später in Jerusalem kopiert und mit anderen Verwaltungsdokumenten des Tempelwiederaufbaus zur „aramäischen Chronik von Jerusalem“ vereinigt, treten Älteste als verantwortliche politische Vertreter Judas auf. Die Texte zeigen mehrere Anhaltspunkte, die eine endgültige Abfassung in hellenistischer Zeit sehr wahrscheinlich machen, da ein Ältestengremium in den beschriebenen Positionen erst in der hellenistischen Epoche nachweisbar ist.
Den historischen Bezug der hebräischen Proklamation im Kapitel 1 vom Buch Esra bewerten die Historiker als „nicht gegeben“. Die entsprechenden hebräischen Passagen formulierte der Chronist völlig neu, wobei er die ihm zugrunde liegende aramäische Originalfassung Esra 6,3-5 als theologische Interpretation ausschmückte.
Theologische Hintergründe
Zweifelsfrei wurde das durch Nebukadnezar II. herbeigeführte babylonische Exil der Juden theologisch als „JHWHs Strafe für das vorherige sündige Leben der Israeliten“ begründet. Im Deuterojesaja („zweiter Jesaja“) wird das Wirken eines anonymen Propheten geschildert, der zwischen 550 v. Chr. und 539 v. Chr. auftrat und während des babylonischen Exils die Worte verkündete, die in Jes 40,1ff. niedergeschrieben sind: „Tröstet mein Volk. Mit dem Exil hat das Volk seine Schuld abgebüßt. Nun wird JHWH kommen und es durch die Wüste ins Land Israel zurückführen“.
Im Zusammenhang mit dem seit 586 v. Chr. andauernden Exil nahm der Chronist an, dass nach so langer Zeit in Jerusalem und Jehuda keine geeigneten Personen mit entsprechendem Traditionsbewusstsein mehr leben würden. Zusätzlich musste sich der Chronist an die „biblische Vorgabe“ des Deuterojesaja halten, die das „eigentliche traditionsbewusste Israel“ nicht mehr in der alten Heimat, sondern in Babylonien ansiedelte. Aufgrund dieser „theologischen Gegebenheiten“ konnte nur das „auswärtige exilierte Israel“ als „Heimkehrer“ für das große Projekt des Tempelwiederaufbaus gelten; jedwede andere Schilderung hätte im Widerspruch zur eigenen religiösen Lehre gestanden. Die biblische Überlieferung berichtet daher aus rückblickender Sicht zu einem Zeitpunkt, als der Tempelaufbau und andere Maßnahmen schon längst beendet waren.
Rezeption
Ende der 1960er Jahren erlangte der Kyros-Zylinder einen neuen Bekanntheitsgrad, als der letzte Schah von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, zum 2500. Geburtstag der iranischen Monarchie behauptete, der Kyros-Zylinder sei weltweit die erste Erklärung der Menschenrechte, dessen Geburtsort der Iran gewesen sei. Unter dem Schah wurde der Zylinder zum Wahlspruch seiner neu geschaffenen nationalen Identität. Seine damalige Werbekampagne war so erfolgreich, dass Kyros II. es sogar schaffte, in deutschen Schulbüchern als Pionier für Menschenrechte bezeichnet zu werden.